Die Kraft der Emotionen – Angst und ihre Wirkung

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Die Angst ist zurück

In diesen Tagen denke ich oft an den Fassbinder-Film „Angst essen Seele auf“ aus den 1970er Jahren. Dieses zeithistorische Filmdokument über die Migrationsproblematik scheint heute aktueller denn je. Der Film thematisiert, wie Angst Menschen voneinander trennt und gesellschaftliche Spaltungen vertieft.

Warum scheinen die angstbasierten, spaltenden Erzählungen und Deutungsrahmen der Trumps, Besos, Musks und Weidels dieser Welt für so viele Menschen ein Lösung zu sein?

Es stellt sich mir die Frage: Was macht Angst mit uns – und was macht sie aus uns?

Die Kraft der Emotionen: Angst und ihre Wirkung

Emotionen wie Freude, Wut, Liebe – und eben Angst – spielen eine zentrale Rolle für unser Verhalten. Paul Gilbert, Professor für Klinische Psychologie, beschreibt drei emotionale Regulationssysteme, die unser Verhalten steuern:

Das Bedrohungssystem, das Motivationssystem und das Verbundenheitssystem

Das Bedrohungs- oder Alarmsystem ist darauf ausgerichtet, Gefahren zu erkennen und abzuwehren. In unserer gegenwärtigen Welt scheint das Alarmsystem oft am Steuer zu sitzen. Täglich erreichen uns neue besorgniserregende Nachrichten, die unser Bedrohungssystem füttern und verstärken. Wenn das Bedrohungssystem aktiviert ist, schaltet sich unser Denkvermögen zurück. Unsere im Gehirn eingebaute Negativitätstendenz (die vorrangig das tatsächliche oder potenzielle Problem wahrnimmt) wird gegenwärtig gefüttert und gemästet und nimmt allen Platz ein, so dass für anderes oft kaum noch Raum ist. Und je öfter das Alarmsystem bedient wird, desto stärker wird es. Denn: „Worauf wir uns fokussieren, das wird stärker.“

 

Dieses Alarmsystem hat uns das Überleben gesichert, indem es uns auf Bedrohungen aufmerksam macht. Der Bereich des Gehirns, in dem das gesteuert wird, wird oft auch als “Reptiliengehirn” bezeichnet, weil manche Reptilien nur über diesen Gehirnteil verfügen. Und diese Mechanismen funktionieren in unserer heutigen komplexen globalen Welt immer noch wie vor Jahrmillionen Jahren.

Das Motivierungssystem ist aktiv, wenn wir etwas wollen und eine innere Unruhe und Rastlosigkeit verspüren. Dank dieses Antriebs nach „mehr“ und „haben wollen“ greifen wir voller Appetit nach Schokolade, oder freuen uns wie ein kleines Kind auf das neuste iPhone, das bald geliefert werden soll. Wenn wir dann bekommen, was wir wollen, schüttet unser Körper das Glückshormon Dopamin aus. Und das macht süchtig. Ein ständiger Kreislauf von Verlangen/Haben-Wollen – Bekommen – Hochgefühl, den wir nur unterbrechen können, wenn wir das Verlangen (und damit die Gewohnheit) bemerken und bewusst nicht bedienen.

Das Verbundenheitssystem fördert Vertrauen, Empathie und Zusammenarbeit. Wenn das Verbundenheitssystem aktiviert ist, empfinden wir Empathie, Vertrauen und Zugehörigkeit. Wir öffnen uns für andere, teilen ihre Freuden und Leiden und fühlen uns verbunden – mit Menschen, Tieren oder der Natur. Dieses System ist das heilsamste, wenn es darum geht, Gemeinschaften zu stärken und schwierige Zeiten zu bewältigen. Doch Angst blockiert dieses System.

Worauf wir uns fokussieren, das wird stärker

Unser Gehirn ist darauf programmiert, Probleme zu suchen – und die sozialen Medien und Nachrichtenplattformen liefern sie uns im Überfluss. Ob die Wiederwahl Trumps, der Krieg in der Ukraine, Umweltkatastrophen oder wirtschaftliche Unsicherheiten: Das Bedrohungssystem wird ständig aktiviert. Wir verfallen in einen Tunnelblick, sehen nur die Probleme und suchen verzweifelt nach einfachen Lösungen.

Das Verbundenheitssystem: Ein Gegenmittel zur Angst und die Wahl, die wir haben

Das Leben ist voller Unsicherheiten. Es gibt kein vollständiges Maß an Kontrolle, und niemand ist wirklich „schuld“. Doch wir haben die Wahl, wie wir reagieren. Lassen wir uns von Angst treiben – oder erinnern wir uns daran, was uns menschlich macht?

 

Ein japanischer Zen-Meister sagte einmal: „Ein spirituelles Leben zu führen bedeutet, eine aufrechte Haltung zu bewahren, selbst dann, wenn keiner zuschaut.“ Vielleicht können wir dies umformulieren: „Ein Mensch zu sein bedeutet, die eigene Menschlichkeit und Verbundenheit zu bewahren, selbst dann, wenn die Welt um uns herum die Alarmglocken schrillen lässt.“

 

Es geht nicht darum, Angst oder Unsicherheit zu verdrängen. Sie dürfen da sein. Doch entscheidend ist, aus welcher Haltung heraus wir handeln: aus Angst – oder aus Verbundenheit? In welcher Welt wollen wir leben?  Worauf fokussieren wir uns – und was möchten wir stärker machen? Diese Fragen muss jeder für sich beantworten.

Astrid Rethmann

Team ORANGEWERK

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